Stefan
Morgendlicher Tau überzog die Wiese mit einer Glitzerdecke. Die Sonne tauchte rötlich schimmernd hinter dem Hügel auf. Einzelne Wolken malten Bilder an den Himmel. Heute war der erste September. Die Zeit verflog viel zu schnell für Stefans Geschmack. Lautes Poltern der Hufe gegen die Boxenwände und Wiehern durchbrach die idyllische Stimmung. Allmählich kam Leben in den Lindenhof.
»Ist ja gut, Amigo, bin ja schon da«, hallte die verschlafene Stimme von Max aus dem Stall. »Amigo, ich weiß, dass du schon ungeduldig auf deinen täglichen Ausritt wartest«, versuchte der angehende Pferdewirt Max den aufgebrachten Hengst zu besänftigen.
Stefan, der Gestütsleiter des Lindenhofs, hörte Max schon beim Eintreten in den Stall mit Toni Morbachs Pferd quatschen und musste grinsen.
Anscheinend hatte seine Besitzerin heute verschlafen. Wobei, ganz vorstellen konnte Stefan sich das nicht. Toni war die Pünktlichkeit in Person und der allmorgendliche Ausritt mit Amigo war ihr heilig. Amigos Verhalten färbte auf Sultan ab. Auch er drehte unruhige Runden in der Box.
»Na, das wird ja heiter werden mit euch beiden«, meckerte Max.
»Guten Morgen, Max. Alles okay bei dir?«, grüßte Stefan.
»Morgen, Stefan. Ja, ja. Bin etwas im Stress, weil Amigo Flausen im Kopf hat und Sultan mitreißt. Die beiden warten schon ungeduldig auf den Ausritt.«
Stefan grinste breit. »Na, dann wünsche ich viel Spaß. Ich habe sie bis nach draußen gehört.«
Max schob seine Kappe zurück, kratzte sich an der Stirn und ergriff den Schubkarren.
»Ich hole für sie frisches Heu. Vielleicht beruhigt sie das ein wenig.« Im Vorbeigehen nickte er den beiden Stallburschen kurz zu, die ihren Dienst antraten. Max war am Morgen nicht gerade gesprächig. Stefan und die anderen kannten ihn gut genug, um sich nicht über seine knappe Art zu wundern.
Stefan schritt auf Amigo und Sultan zu, die ihn mit ihren großen Augen und stolz erhobenen Köpfen erwarteten.
»Na, wer wird denn so ungeduldig sein?«, tadelte er die beiden liebevoll. Mit einem Lächeln hielt er ihnen Leckereien entgegen, die sie freudig annahmen.
»Na also, geht doch«, scherzte Stefan. Er streichelte ihre samtigen Nasen und die Ganaschen, bevor er seinen Weg in den linken Stalltrakt fortsetzte, wo die Boxen der trächtigen Stuten lagen. Jeden Morgen war dies sein erster Anlaufpunkt. Das Wohl der Tiere stand an erster Stelle, denn sie bildeten das Herzstück der Zucht auf dem Lindenhof. Die prächtigen Stuten, einst selbst hier gezüchtet und trainiert, waren nun für die nächste Generation verantwortlich. Jedes Tier war ein Juwel, liebevoll gepflegt und umsorgt. Sie repräsentierten das Gestüt, das weit über die Landesgrenzen hinaus für seine exzellente Zucht bekannt war und einen makellosen Ruf genoss.
»Guten Morgen, Stefan«, holte ihn Tonis Stimme aus seinen Gedanken. Sie stützte sich beim Gehen auf einen Stock.
»Guten Morgen, Toni, Amigo ist ziemlich aufgebracht und unruhig. Ich glaube, Max hat alle Hände voll damit zu tun, ihn zu beruhigen.« Der verschmitzte Unterton in seiner Stimme war nicht zu überhören.
»Ich habe ihn bereits gehört, aber jetzt bin ich ja da. Jan ist schon bei den Pferden, um sie zu satteln. Wie geht es den Stuten?«
»Alles im grünen Bereich. Keine Auffälligkeiten«, berichtete Stefan voll Stolz. Für das Wohlergehen der Pferde und der Zuchttiere war vor allem er verantwortlich. Sein Chef Arthur Morbach schätzte und respektierte seine Arbeit. Auch Toni, die Enkelin von Morbach, brachte ihm große Achtung entgegen. Er kannte Toni schon seit Langem. Sie war eine Kämpfernatur, ähnlich wie ihr Großvater, und ließ sich nicht so leicht unterkriegen. Diese Eigenschaft bewunderte er an der jungen Frau. Stefan war überzeugt, dass sie einmal eine ausgezeichnete Chefin sein würde, wenn die Zeit dafür gekommen war.
»Ich muss weiter«, sagte Toni und begab sich zu Amigo.
Stefan sah ihr nach, wie sie einen Schritt vor den anderen setzte. Er fand es einzigartig, wie sie sich nach ihrem schweren Unfall zurück kämpfte. Obwohl sie auch nach der Operation noch Schmerzen plagten, war sie zu keiner Zeit gegenüber Angestellten oder Tieren ungehalten. Nie hatte sie es andere spüren lassen. Ob er in einer ähnlichen Situation ebenso stark gewesen wäre, er wusste es nicht. Er war froh, dass er mit zwei gesunden Beinen gesegnet war. Er öffnete Selmas Box und trat ein. Ruhig strich er Selmas Hals entlang und fuhr mit der Handfläche über den Bauch. Sie würde ihnen im kommenden Frühjahr sicherlich wieder ein prachtvolles Fohlen schenken. Er liebte seine Arbeit. Bei jedem Pferd, das aus ihrer Zucht ausgezeichnet wurde, hatte er einen großen Anteil daran. Stolz über seine Leistung erfüllte ihn.
»Bist ein braves Mädchen.«
Max kam mit dem Heu an. Er stellte die Karre ab und wischte sich über die Stirn.
»Ist alles okay mit ihr?«, fragte er.
»Ja, alles bestens.«
»Gut, dann fange ich bei ihr mit dem Futter an.« Max öffnete die Tür zur Box. Er füllte den Futtertrog auf.
»Später könnt ihr die Stuten auf die Weide führen«, sagte Stefan zu Max, bevor er zur nächsten trächtigen Stute ging.
»Guten Morgen, Stefan.« Arthur Morbach kam in den Stall.
»Guten Morgen, Herr Morbach«, begrüßte Stefan den Besitzer des Gestüts mit einem Nicken.
»Haben Sie Toni und Jan gesehen?«
»Sie waren eben im Stall und haben die Pferde für ihren Ausritt abgeholt. Amigo war recht ungehalten, weil Toni schon spät dran war.«
Herr Morbach lachte vergnügt.
»Die jungen Leute brauchen halt auch ein bisschen Zeit für sich allein. Wir waren in jungen Jahren nicht anders, oder?«
»Na ja«, erwiderte Stefan nachdenklich. Einerseits wunderte es ihn, dass sein Chef merklich gut gelaunt war, seitdem Toni und Jan Olsson offiziell ein Paar waren. Andererseits erinnerte er sich an seine eigene Jugend. Die Bilder seiner enttäuschenden Beziehung drängten sich ins Bewusstsein. Frauen hatten in seinem Leben keinen Platz mehr. Hand in Hand war er einst mit seiner Liebe über die blühenden Wiesen gelaufen, voller Hoffnung und Pläne für die Zukunft. Doch diese Träume waren zerplatzt wie Seifenblasen. Eine Leere hatte sich in Stefans Innerem ausgebreitet, die er trotz aller Bemühungen nicht hatte füllen können.
Die Enttäuschung und der Schmerz hatten eine unsichtbare Mauer um sein Herz errichtet, die niemand zu durchbrechen vermochte. Er war ein Einzelgänger, der sich in der Gesellschaft von Pferden am wohlsten fühlte. Sie waren seine treuen Begleiter, die ihm bedingungslos vertrauten und seine Einsamkeit mit ihrer Anwesenheit erträglicher machten. In ihrer Gegenwart vergaß er die Vergangenheit und war frei.
»Bei den Stuten ist alles in Ordnung«, sagte Stefan. Eher, um sich von den aufkeimenden Gedanken abzulenken als zur Information für seinen Chef.
Herr Morbach strich Selma sanft über die Stirn.
»Wenn Sie später etwas Zeit erübrigen können, kommen Sie bitte in mein Büro. Ich möchte die nächsten Termine mit Ihnen abgleichen.«
»Natürlich.« Stefan blickte zu seinem Chef, dessen Anwesenheit er für einen Augenblick verdrängt hatte, und wandte sich den Pferden zu. Morbach schlenderte weiter, um die anderen Pferde zu besuchen.