Kapitel 1
Ivy
»Ivy, der lästige Kerl an Tisch fünf verlangt nach dir. Tut mir leid, er hat mir nicht verraten, was er will.« Ihre Kollegin Samantha zuckte bedauernd die Schulter. Ivy verzog genervt die Nase. Sie steuerte auf Tisch fünf zu, an dem sechs Männer, dem Aussehen nach gut verdienende Geschäftsleute, saßen und sich aufspielten. Seit sie eingetreten waren, zeigten sie, dass sie sich als etwas Besseres sahen. Keine Ahnung, was sie hierher ins ›The Colorful Inn‹ verschlagen hatte.
»Hi, Kleine, bring uns noch eine Flasche Dalmore-Whisky«, bestellte der blonde Herr, den sie auf Mitte vierzig schätzte. »Und deine Telefonnummer, Kleines«, schwatzte er noch hinterdrein.
Wie sie dieses betrunkene Pack hasste!
Ohne Kommentar verzog sich Ivy, sie hatte schon lange gelernt, dass es nichts brachte, wenn sie sich aufregte. Also holte sie die bestellte Flasche, schenkte eine Kostprobe in ein frisches Glas und reichte es dem Gast. Er kostete und nickte ihr zu.
»Ist okay, du kannst einschenken.«
Sie füllte die Gläser, die auf dem Tisch standen.
»Und, wie sieht’s aus?«, er schob ihr einen Zettel und einen Kugelschreiber zu. »Schreib mir deine Telefonnummer auf, du wirst es nicht bereuen.«
Am liebsten hätte sie ihm das schleimige Grinsen aus der Fratze geschlagen.
»Keine gute Idee, dem Personal ist so etwas strengstens untersagt«, wehrte sie ab und ging zur Theke. Ohne die Männer weiter zu beachten, bediente sie die anderen Gäste.
»Was wollte der?« Ihr Chef Rodrigues nickte mit dem Kinn in die Richtung.
»Anbaggern«, erwiderte Ivy. »Aber er gefällt mir nicht.«
»Mamma Mia«, meckerte ihr Chef. »Warum machst du ihnen nicht schöne Augen? Dann klingelt es in der Kasse, auch in deiner. Du könntest dein Trinkgeld erheblich steigern.«
»Pah, ich bin nicht käuflich! Das weißt du!« Ivy knallte das Tablett mit den leeren Gläsern, die sie vorhin eingesammelt hatte, auf den Tresen, dass sie klirrten. Sie funkelte Rodrigues vernichtend an.
»Wenn dir etwas nicht passt, verschwinde ich!« Die Worte purzelten wie glühende Kohlen aus ihrem Mund, bevor sie sie hätte zurückhalten können. Das passierte ihr immer, wenn sie sich aufregte. Da ging ihr Temperament mit ihr durch. Wütend starrte sie Rodrigues an. Ihr Herz schlug wild.
In der Zwischenzeit diskutierten die Gäste an Tisch fünf lautstark. Oder stritten sie sich? Ivy war es egal. Weil ihr Chef nichts mehr entgegnete, bediente sie einen anderen Tisch. Es waren drei Leute gekommen, allem Anschein nach Touristen. Sie nahm gerade deren Bestellungen auf, als der blonde Schnösel von Tisch fünf neben ihr auftauchte.
»Ich will deine Telefonnummer, Indianerschlampe«, forderte er mit einer bedrohlichen Intensität in der Stimme. Er packte sie fest am Oberarm. Sein Griff brannte auf ihrer Haut. Sein Gesicht war von einem schleimigen Grinsen verzerrt, das Ekel in Ivys Magen aufwühlte. Die Aggression in seinen Augen ließ sie erstarren. Ihr Puls beschleunigte sich mit jeder Sekunde.
»Lassen Sie sofort meinen Arm los«, fauchte sie ihn an.
Er packte fester zu. In einem Moment impulsiver Entschlossenheit fuhr Ivys andere Hand hoch und landete mit einem lauten Klatsch auf seiner Wange. Der Klang hallte durch das Lokal, gefolgt von einem Moment der Stille, in dem alle Augen auf sie gerichtet waren. Rodrigues kam auf sie zu und sein aufgebrachter Blick durchbohrte sie.
»Lass mich sofort los. Such dir deinesgleichen!« Ihre Stimme durchdrang den Raum mit einer Lautstärke, die die Luft vibrieren ließ. Der Mann starrte sie fassungslos an und griff an seine gerötete Wange, die sicherlich schmerzte. Seine Augen funkelten vor Zorn.
»Das hast du nicht ungestraft getan!«, schrie er erzürnt. Die Situation war geladen. Ein winziger Funke reichte aus und sie würde mit einem gewaltigen Knall explodieren.
Rodrigues versuchte die Situation zu entschärfen. Doch Ivy hatte die Schnauze voll. Sie stürmte aus dem Schankraum. Sie brauchte Luft.
Für heute würde sie die Arbeit niederlegen. Ob ihr Chef und ihre Kollegen ohne sie zurechtkamen, war ihr egal. Ihre Nerven lagen blank. Sie holte ihre Jacke und die Tasche aus ihrem Spind und verließ das ›Colorful Inn‹ durch den Hinterausgang. Draußen hüllte die feuchtkalte Luft sie sofort ein. Es war einer dieser tristen Wintertage, an denen die Kälte sich hartnäckig in die Knochen schlich und der feine Nieselregen wie ein Schleier aus Grau die Straßen bedeckte. Ivy schlang ihre Jacke enger um sich. Ihr Weg führte sie durch die hell beleuchtete und stark befahrene Houston Street Richtung Lower East Side, vorbei an Geschäften, Restaurants, Cafés, wo ihre Wohnung lag. Sie hätte die Subway nehmen können, das wäre schneller gegangen, hatte aber den Nachteil, dass sie die stickige Luft, die Enge und die Nähe der anderen Menschen hätte aushalten müssen. Nein, Subway fuhr sie nur im Notfall. Außerdem half die Kälte, den Ärger im Zaum zu halten. In Gedanken versunken wäre sie fast in eine Frau gelaufen, die aus einem Geschäft auf den Gehsteig trat. Dass sie später hierher zurückmusste, um die Hunde der Carters auszuführen, blendete sie ebenso aus. Der Gedanke an das bevorstehende Gespräch mit Rodrigues ließ sie innerlich erzittern. War es das Ende ihrer Anstellung in seinem Restaurant oder würde er sie doch behalten? Bei dem mickrigen Hungerlohn, den er ihr zahlte, war es ihr im Grunde genommen egal. Aber dann würde sie sich etwas anderes suchen müssen. Ob sie allerdings einen vergleichbar annehmbaren Job fand, stand auf einem anderen Blatt. So einfach war es nicht, in dieser Gegend passende Arbeit zu finden, noch dazu ohne abgeschlossene Ausbildung. Sie brauchte das Geld. Abermals hatte ihr Temperament überreagiert und sie in eine verzwickte Lage gebracht.
Die Sorge um ihre Zukunft wurde zudem von einem anderen Druck überschattet. Der Vermieter, dieser hinterhältige Kerl, hatte ihr bereits vor drei Tagen mit einem Schreiben gedroht, sie aus der Wohnung zu werfen, wenn sie nicht bis Ende der Woche die Miete beglich. In Ivy stieg der Zorn auf. Warum drängte er sie so? Sie hatte doch immer pünktlich bezahlt.
Die 1,2 Meilen zu ihrer Wohnung schienen endlos, obwohl sie für die Strecke nur dreißig Minuten benötigte. Jeder Schritt war von der Last der Unsicherheit und der drohenden Zwangsräumung begleitet. Zudem machte sich ihr Magen bemerkbar und knurrte vor Hunger, und der Gedanke daran, hungrig schlafen zu müssen, schnürte ihr die Kehle zu.
Normalerweise hätte sie nach Ladenschluss im Lokal von den Speisen gegessen, die übrig blieben. Doch heute fiel auch das aus, und ihr Kühlschrank war so leer wie ihr Geldbeutel. Ein Gedanke schlich sich in ihren Kopf - vielleicht hatte ein guter Geist heimlich ihren Kühlschrank gefüllt? Ein Seufzer entwich Ivy über ihre Träumereien, während sie die letzten Meter zu ihrer Wohnung zurücklegte, bereit für die ungewisse Nacht, die vor ihr lag.
Vor zehn Jahren, nach dem Tod ihrer Eltern, war sie von zu Hause geflohen. Der Verlust hatte das rationale Denken ausgeschlossen. Mit der Hoffnung auf ein besseres Leben im Gepäck war sie hierher in die Metropole New York gezogen. Einen tollen Job und ein angenehmes Leben, zumindest in der Mittelklasse, strebte sie an. Mittlerweile war sie zweiunddreißig und ihr Konzept nicht aufgegangen. Mit drei Gelegenheitsjobs, die sie rund um die Uhr auf Trab hielten und immer wieder wechselten, kämpfte sie sich durch. Die Miete für ihr winziges Einzimmer-Apartment verschlang mehr als zwei Drittel ihres kargen Einkommens, als ob es von einem hungrigen Ungeheuer verschlungen wurde. Und dieses Ungeheuer hatte einen Namen: John Wilson. Ivy seufzte und verdrängte die Gedanken an die unerbittlichen monatlichen Zahlungen. Der einzige Trost, den die Wohnung bot, war der private Sanitärraum. Der lag nicht wie sonst üblich auf dem Flur und musste nicht mit anderen Bewohnern geteilt werden. Bei ihrer Wohnungssuche damals war ihr vieles untergekommen, aber in der Bronx waren die Zustände am schlimmsten gewesen. ...