"Flüchtendes Herz sucht Unterkunft"

Teil 1 aus der Reihe: Herzschlagmomente

 

Eine Neuauflage von Nanny mit Herz

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Leseprobe

Kapitel 1

Der Meereswind spielt mit Jennifers schulterlangem schokobraunen Haar und streichelt ihre Haut. Erfrischende Kühle. Sonnenstrahlen hingegen umarmen sie, schenken ihr Wärme und Geborgenheit. Ein wohliges Wechselspiel von Wind und Sonne.

Sie träumt mit offenen Augen und lächelt vor sich hin. Tief atmet Jennifer die Salzluft ein, lauscht dem Plätschern des Wassers. Unermüdlich rollen Wellen, geschmückt mit weißen Schaumkrönchen an den flachen Kiesstrand. Von Weitem dringt Kinderlachen an Jennys Ohr. Jachten, die Segel windgebläht, fahren in den Hafen ein. Ein Motorboot rauscht vorbei, einen Wasserskifahrer im Schlepptau. Aus den Boxen der Cocktailbar auf der Promenade hallt ein bombastischer Song über den Strand. Das Leben ist gerade herrlich entspannend unter dem klaren azurblauen Himmel.

Mit einem Seufzen schließt Jennifer die Augen und schon spürt sie seine Hände auf der nackten Haut, knapp über dem Bikinihöschen. Sein männlicher Duft steigt ihr in die Nase, als er sich über sie beugt, die Lippen auf ihre legt und Jennifers seliges Lächeln verschlingt. Obwohl sie bereits seit einem Jahr ein Paar sind, lösen seine Küsse noch immer einen wohligen Schauer aus und versetzen ihren Körper in eine prickelnde Vorfreude. Begehrlich schlingt sie die Arme um seinen Hals und blinzelt ihn verliebt an. Sein Finger streichelt ihr zärtlich über die erhitzte Wange.

„Wollen wir hochgehen, ich habe unbändige Lust auf dich“, flüstert er. Sein heißer Atem stellt ihr alle Härchen auf. Benommen und selig lässt sie sich von ihm hochziehen. Dann laufen sie aufgeregt und kichernd in ihr gemietetes Studio – ein kleines Apartment mit Doppelbett, Küchenzeile sowie einem Tischchen mit zwei Sesseln. Auch ein winziger Raum mit WC, Dusche und Waschbecken ist vorhanden. In ihrem jugendlichen Übermut fallen sie aufs Bett, geben sich ungehemmt und stürmisch ihrer Knutscherei hin. Jennifer spürt seine Hände überall auf ihrem erhitzten Körper, sie liebt diese verführerischen Berührungen, die heißen Lippen auf ihrer nackten Haut, ja, sie liebt ihn. Gerade in dem Augenblick, als sich sein Körper voller Begierde über sie schiebt, klingelt es …

 

Wo kam das laute Klingeln auf einmal her? Sexuell aufgewühlt, schweißgebadet und benommen wand sie sich im Bett. Sie betastete die Seite neben sich, nur um festzustellen, dass diese Betthälfte kalt und leer war. Jennifer öffnete die Augen. Sie befand sich in ihrem ehemaligen Kinderzimmer und war alleine. Ein Traum, nichts weiter als ein Traum! Traurigkeit, unendliche Traurigkeit drohte sie in dem Augenblick zu erdrücken. Resignierend brachte sie den Wecker zum Schweigen, starrte konfus an die Zimmerdecke. Die grausame Wirklichkeit brach über Jenny herein und sogleich rannen Tränen ihre Wangen hinab, ihre Augen schienen derzeit kleine Quellen zu sein, die niemals mehr versiegen wollten. Gerade noch von einer wunderschönen Illusion verführt, ihrem ersten Urlaub vor einem knappen Jahr, Peters Verlobungsgeschenk, traf sie die Realität nun mit voller Wucht.

Damals war die Welt für sie beide in Ordnung gewesen. Eine Woche Medulin hatte Peter für sie gebucht. Es waren die schönsten Tage in ihrem Leben gewesen.

Doch jetzt schlief sie wieder in ihrem Jugendbett. Im Elternhaus, das abseits der Stadt Perg in einem winzigen Ort im Grünen lag. Seit dem Wochenende der Trennung, an dem sie mit Sack und Pack bei ihren Eltern eingezogen war, verkroch sie sich hier. Peter gehörte der Vergangenheit an. Dabei hätten sie in drei Monaten geheiratet. Für die Hochzeitsreise war abermals Medulin am Programm gestanden und dasselbe niedliche Apartment. Auch das war bereits Geschichte, obwohl der Termin in der Zukunft lag.

Jennifer wischte die Tränen aus Gesicht und Augen. Mürrisch wanderte ihr Blick zum unseligen Wecker, der bereits zum dritten Mal seinen unmöglichen Klingelton startete. Sie drückte ihn ab, quälte sich aus den Federn und steuerte das Badezimmer auf der gegenüberliegenden Gangseite an. Na toll! Die Tür war verschlossen. Von drinnen drang die quiekende Stimme ihrer Schwester heraus, die, wie so oft, ein schönes Lied verunglimpfte. Ihre Schwester hielt keinen Ton, sie sang abgrundtief falsch, dafür aus voller Leidenschaft. Jennifer klopfte.

„Bitte beeile dich, ich muss mich duschen und schminken. Ich hab’s wirklich eilig. Spätestens in einer halben Stunde muss ich los.“

Der Gesang, sofern man diese Geräusche als solchen bezeichnen konnte, verstummte, und einen Augenblick später wurde die Tür aufgerissen.

„Guten Morgen“, trällerte Anika gut gelaunt und ihr sonniges Gesicht grinste Jenny breit entgegen. „Das Badezimmer steht zu deiner freien Verfügung, Schwesterherz. Hatte ganz vergessen, dass du wieder hier bist. Meine Liebe, du siehst ja bescheiden aus, wenn ich das einmal so feststellen darf. An deiner Stelle würde ich mich noch ein paar Tage krankschreiben lassen. Kann ja sicherlich jeder verstehen. So ein Arsch aber auch! Na ja, alles Liebe und einen schönen Tag, ich bin schon die Wolke“, plapperte Anika unentwegt, bevor Jenny auch nur einen Ton von sich geben konnte. Anika, um vier Jahre jünger als sie, war das Nesthäkchen der Familie Neumann. Eine ziemliche Nervensäge war sie manchmal, wie sie eben bewiesen hatte. Böse war Jenny ihr jedoch nicht. Das Gequatsche von Anika ließ ein zartes Lächeln über ihr Gesicht huschen. Anika arbeitete seit der Matura im Büro einer kleinen Firma. Ihr gefiel es dort. Der Chef wusste mit ihr umzugehen und unter der Kollegenschaft herrschte ein gutes Betriebsklima.

Es gab noch Thomas, ihren um zwei Jahre jüngeren Bruder. Er hatte die Hotelfachschule absolviert und gondelte derzeit rund um die Welt, um bei den besten Köchen in die Lehre zu gehen. Er hatte seine Leidenschaft, aus Mehl, Zucker, Eiern, diversem Gemüse, Fleisch, fremdländischen Gewürzen und noch allerlei anderen Zutaten, die schmackhaftesten Speisen zu zaubern, zum Beruf gemacht. Jetzt fehlte er ihr. Er war immer der ausgleichende Pol zwischen den Geschwistern gewesen, derjenige, der beinahe auf alle Fragen eine Antwort wusste. Obwohl Thomas nach außen hin oft unruhig und zappelig wirkte, vermochte er Ruhe und Gelassenheit in verfahrene Situationen zu bringen und Trost zu spenden.

Jenny huschte ins Badezimmer. Aus verquollenen Augen glotzte ihr das eigene Spiegelbild entgegen. Grauenhaft! Anika hatte sich noch schonend ausgedrückt bei der Beschreibung ihres Aussehens. Wie hatte ihr so eine Blamage nur passieren können? Da war es doch kein Wunder, dass sie ständig heulte. Nicht, dass sie Peter nach allem zurückhaben wollte, nein, es war die Beschämung, die Verletzung ihres Stolzes, die Jenny derart quälte. In einem Katalog mit Brautkleidern war ihr ein wunderschönes Kleid ins Auge gestochen. Sie hatte sich damit schon vor dem Traualtar gesehen. Irrtum! Ein wirklich fataler Irrtum, wie sich herausgestellt hatte.

Bevor sie sich auf den Weg in den Kinderhort machte, lief sie in die Küche. Im hellen Raum befanden sich eine Küchenzeile, eine Kochinsel, eine bequeme Sitzecke mit grünem Stoffbezug sowie ein riesiger Tisch und drei Sessel, alles aus Fichtenholz. Ihre Mutter Klara Neumann saß mit einer dampfenden Kaffeetasse in der Hand beim Tisch und las in der örtlichen Tageszeitung. Sie blickte auf und lächelte Jenny aus ihren warmen dunklen Augen freundlich an. Die Augenfarbe hatte sie an ihre älteste Tochter weitervererbt. Man sah ihr die fünfzig Jahre nicht an. Sie betrieb mindestens zweimal die Woche aktiv Sport im Fitnesscenter, um ihre schlanke Figur zu behalten, und legte viel Wert auf ihr gepflegtes Äußeres. Trotz der großen Familie, dem riesigen Haus mit einem dazugehörenden Garten, den sie liebevoll pflegte, arbeitete sie gern als Sozialarbeiterin. Sie genoss den Vorteil, sich ihre Arbeitszeit frei einzuteilen. Klara betreute junge Menschen, die es im Leben nicht gut getroffen hatten, weder mit ihren Eltern, noch mit der Gesellschaft, in die sie hineingeboren worden waren. Ihr großes Herz verschenkte reichlich Liebe. Eine Eigenschaft, die sie an Jenny weitergegeben hatte.

„Guten Morgen, meine Große“, begrüßte sie ihre älteste Tochter.

„Morgen, Mama, ich muss los. Ich wollte mich nur verabschieden.“

„Wie lange musst du heute arbeiten? Wegen des Essens?“

„Aber Mama, du brauchst doch nichts kochen für mich, ich kann mich auch selbst versorgen.“ Jenny war ihre Situation unangenehm genug, und zur Last wollte sie ihren Eltern nicht fallen.

„Liebes, auf eine Portion mehr oder weniger kommt es nicht an. Außerdem siehst du aus, als würde es dir nicht schaden, ein wenig bemuttert zu werden. Zumindest für eine Weile. Sobald du dich wohler fühlst, kannst du wieder alleine für dich sorgen. Aber lass mir zumindest jetzt diese Freude, Kind.“

Jenny umarmte ihre Mutter und drückte ihr einen dicken Kuss auf die Wange.

„Danke, Mama“, war das Einzige, das sie dazu sagen konnte. Ihre großartige Familie gab ihr gerade jetzt Halt und Stütze, nahm sie liebevoll auf, spendete Trost. Keine Vorhaltungen, verbalen Schuldzuweisungen. Sie durfte ihre verwundete Seele lecken.

 

Das Dilemma hatte vorigen Mittwoch begonnen. Sie war früher als üblich aus dem Kindernest weggekommen und hatte beschlossen, Peter zu überraschen. Im Supermarkt um die Ecke besorgte sie rasch Lebensmittel für eine selbst gemachte Pizza. Das Rezept stammte von ihrem Bruder Thomas. Er hatte es einem italienischen Koch abgeschwatzt, mit dem er auf Saison gearbeitet hatte. Auf der Fahrt zur gemeinsamen Wohnung, in der sich auch Peters winziges Büro befand, freute sie sich schon auf einen gemütlichen Abend zu zweit. Sie liebte diesen Mann und fand es immer noch unglaublich, ihn für sich gewonnen zu haben. Neuerdings versuchte er sich mit Internetverkauf und einer Internetwerbeplattform selbstständig zu machen. Jennifer fand seine Idee supertoll, so wie sie alle seine Ideen gut fand. Sie liebte Peter ohne Einschränkung und unterstützte ihn, wo sie konnte. Das gemeinsame Kochen würde wieder Spaß machen, danach freute sie sich auf das wohlige Kuscheln auf der Couch. In letzter Zeit hatte Jennifer das vermisst, denn beide waren beruflich ziemlich eingespannt gewesen. Peter hatte sich ausschließlich in seinen PC verkrochen, während sie die Krankenstandsvertretung für eine Kollegin, die aufgrund eines Beinbruches für längere Zeit ausfiel, übernehmen musste. Zusätzlich halste man ihr noch diverse andere Urlaubsvertretungen auf. Als ausgebildete Kindergartenpädagogin war sie heilfroh, zumindest einen befristeten Dienstvertrag erhalten zu haben. Sie wehrte sich daher nicht, wenn sie kurzfristig einspringen musste. Sie liebte kleine Kinder über alles und übte ihren Job mit Herzblut aus. Aber es nervte, keinen fixen Vertrag zu erhalten. Die Unsicherheit, wie es beruflich weitergehen könnte, lag wie eine große düstere Wolke über ihr. Es war ihr bereits mitgeteilt worden, dass sie abermals eine neue Stelle suchen müsse. Ab Herbst würde, aufgrund zu geringer Kinderanzahl, ihr derzeitiger Vertrag nicht verlängert werden. Dass Paare auf Nachwuchs verzichteten oder sich maximal für ein Kind entschieden, wirkte sich auf ihren Beruf aus. Jenny wünschte sich eine große Familie mit mindestens fünf Kindern, seit sie ein Teenager war. Bislang hatte sie Peter dafür allerdings nicht begeistern können. Sie versuchte ihre Probleme zu verdrängen.

Jetzt freute sie sich umso mehr auf ihren Liebsten. Dieser Mann hatte es ihr von der ersten Sekunde an angetan. Sie waren in der hiesigen Ortsdisco regelrecht aufeinandergeprallt, als sie hüftschwingend über die Tanzfläche wirbelte. Von da an tanzten sie gemeinsam und klebten wie Kletten aneinander. Das war jetzt knapp zwei Jahre her. Mit den meisten Freundinnen war der Kontakt mittlerweile abgebrochen, weil Peter sie gänzlich in Beschlag genommen hatte. Nur Sonjas Freundschaft hielt den Stürmen der ersten Liebe stand. Ab und zu traf sie sich mit ihr. Aber Peter gehörte der eifersüchtigen Sorte Mann an. Er sah es nicht gerne, wenn Jenny alleine unterwegs war. Ein warmes Gefühl der Zuneigung durchflutete sie. Er liebte sie eben über alles, wie er ihr immer wieder zu verstehen gab. Mühsam schleppte sie die schweren Einkaufstüten in den zweiten Stock zu ihrer Wohnung. Schnaufend stellte sie eine Tüte ab, um mit der einen freien Hand den Schlüssel anzustecken, um aufzusperren. Mit dem Fuß hielt sie die Tür auf, damit die nicht wieder ins Schloss fiel, während sie die schwere Tüte wieder hochhob. Geschafft. Endlich im kühlen Flur stellte sie alles ab. Die sommerlichen Temperaturen stiegen jetzt Ende Juni schon recht hoch und sie schwitzte. Seufzend schlüpfte sie aus den Schuhen und lief ins Wohnzimmer. Sie verharrte.

Auf dem Boden lag überall verstreute Damenkleidung. Das waren auf gar keinen Fall ihre Klamotten! Aber …! Auf leisen Sohlen steuerte sie das Schlafzimmer an, um wie vom Blitz getroffen stehenzubleiben, unfähig, einen Laut von sich zu geben. Peter wurde von niemand Geringerem als ihrer besten Freundin geritten, im wahrsten Sinne des Wortes. Beide nackt, übereinander in eindeutiger Pose zu sehen, zerbrach augenblicklich Jennys Herz in tausend Stücke. Sonja drehte keuchend ihren Kopf und erblickte sie. Sie hielt mitten in der Bewegung inne. Daraufhin drehte sich auch Peter um.

„Jenny? Schatz … das ist nicht so … wie es jetzt … vielleicht aussieht“, stotterte er.

Ein Keuchen verließ Jennys Mund. Sie hatte bis jetzt die Luft angehalten. Mit einem Ruck riss sie sich aus ihrer Schockstarre und lief aus der Wohnung. Sie lief und lief, ohne zu wissen, wohin. In einiger Entfernung lag der Stadtpark, erst dort kam sie wieder zu sich. Schwer atmend fiel sie auf eine Parkbank. Die Tränen ließen sich nicht mehr stoppen. Ein lautes Schluchzen schüttelte sie und ihr Körper krümmte sich vor innerlichem Schmerz zusammen. Peter und Sonja! So ein Arsch! Gerade Peter hatte immer wieder versichert, dass eine Frau wie Sonja überhaupt nicht sein Typ sei. Sonja war ja auch nur blond, ihr langes, seidig glänzendes Haar umschmeichelte ihr bildhübsches Gesicht. Ihre langen Beine und die schmalen Hüften waren ein weiterer Hingucker. In jeglicher Kleidung sah sie atemberaubend aus, sogar in dem Jutesack, den sie sich im vorigen Fasching übergeworfen hatte, als sie als Squaw verkleidet zum alljährlichen Maskenball ging! Jenny maskierte sich als feurige Zigeunerin und wirkte in ihrem langen roten Stufenrock, mit der schwarzen Carmenbluse neben Sonja wie eine plumpe Bauernmagd.

„Ein Mann will doch keine Bohnenstange. Er will eine Frau, die schöne weiche Rundungen hat, runde Hüften, schön geformte Beine, keine Stelzen wie Sonja. Dein gebärfreudiges Becken hat es mir von der ersten Sekunde an angetan, mein Schatz“, äffte sie ihn wütend nach. Sie heulte ohne Ende auf der Parkbank. Und sie Trampel hatte ihm jedes Wort geglaubt! Männer sind solche Lügner. Und ihre Freundin Sonja? Die hatte nichts Besseres zu tun, als Peter bei jeder Gelegenheit in ihrem Beisein schlecht zu reden. Warum? Sie hatte wahrlich bei allen Männern Chancen, warum also gerade Peter?

Jenny schüttelte den Kopf, sie verstand die Welt nicht mehr. Wie lange ging das schon mit den beiden? War sie so blind gewesen, nichts zu bemerken? Keine Anzeichen, nichts! Ja, sie beide hatten in der letzten Zeit viel zu tun, waren gestresst. Oder hatte nur sie keine Zeit gehabt? Peter hatte sich nie beschwert. Mit einem Schlag hatte sie ihre allerbeste und einzige Freundin und die Liebe ihres Lebens verloren. Ein neuerlicher Weinkrampf überrollte sie. Das Gefühl, eine unscheinbare, hässliche Maus zu sein, überschwemmte sie. Dunkle Wolken zogen auf, die Dämmerung setzte bereits ein. Nur, sie registrierte es nicht. Langsam wich die Hitze einer kühlen Brise. Es war doch erst Juni und die Nächte noch entsprechend kühl.

Sie war wohl stundenlang auf dieser einsamen Bank gesessen. Nacht hüllte sie ein. Eine Straßenbahn fuhr ihre Runde. Autolärm klang gedämpft an ihre Ohren. Spaziergänger waren schon länger keine mehr vorbeigekommen. Kälte kroch in ihre Knochen. Zurück zu Peter wollte sie auf keinen Fall. Sie hatte keine Wohnung mehr. Reflexartig griff sie in die hintere rechte Hosentasche, um ihr Handy herauszufischen. Mit zittrigen Händen suchte sie die Nummer ihrer Mutter heraus.

„Hallo, Jenny, was gibt es? So spät rufst du ja sonst nie an“, hörte sie die fürsorgliche Stimme ihrer Mutter.

Jenny heulte ins Telefon, gab stotternd ihren Standort bekannt und wartete schließlich am Straßenrand, bis sie abgeholt wurde. Keine zehn Minuten später hielt der Wagen ihres Vaters vor ihr. Sie ließ sich auf den Beifahrersitz fallen.

Gert Neumann sah sie von der Seite an und meinte mit sanfter Stimme: „Wirst sehen, es wird alles wieder gut, mein Täubchen.“ So hatte er sie immer genannt, wenn sie als Kind traurig gewesen war. Seine warmherzige Stimme füllte das Innere des Wagens aus. Nur, in diesem Augenblick wusste Jenny nicht, was wieder gut werden sollte. Wie denn? Neuerlich entfuhr Jenny ein lauter Schluchzer.

Zuhause nahm ihre Mutter sie in die Arme, führte sie in die Küche, brühte einen heißen Früchtetee auf. Dazu gab es zur Stärkung ein Stamperl von Vaters Selbstgebranntem.

„I… i… ich hab Peter und So… Sonja erwischt, im Bett …“ Weiter kam sie nicht mit ihrer Erläuterung. Ein neuerlicher Heulkrampf hinderte sie am Sprechen. Ihre Eltern benötigten keine weiteren Erklärungen, um zu verstehen.

„Sonja und Peter also!“ Jennys Mama schüttelte den Kopf. Irgendwie hatte sie ihrem zukünftigen Schwiegersohn in spe genau so etwas zugetraut. Aber sie würde sich hüten, dies jetzt in diesem Augenblick ihrer Tochter anzuvertrauen. Hoffte aber insgeheim doch, dass dieser Mensch ein für alle Mal Geschichte war und blieb.

Am nächsten Morgen meldete sich Jenny für die nächsten beiden Arbeitstage krank. Sie war schlichtweg unfähig, aus dem Bett zu kriechen und so zu tun, als wäre nichts geschehen. Dafür fehlte ihr die Kraft. Das liebevoll zubereitete Essen verschmähte sie. Die Kehle wie zugeschnürt, wäre es zusammen mit den Brocken der Erinnerung im Hals stecken geblieben. Die aufkeimenden Würgereize unterdrückte Jenny nur mühsam. Ihr Magen rebellierte, wollte alles ausspeien. Immer wieder schaltete sich das Kopfkino ohne ihr Zutun ein. Peter und Sonja. Sonja und Peter! Und wie auf Knopfdruck flossen die Tränenbäche. So viel Flüssigkeit konnte ein einzelner Mensch doch nicht in sich haben.

Am Freitag holten Anika und ihre Eltern Jennys Sachen aus der Wohnung. Sie packten ihre Kleidung, das Geschirr, das sie von ihnen beim Einzug erhalten hatte, die Toilettenartikel und noch einige andere Sachen ein und verfrachteten sie zu sich ins Haus. Peter trafen sie zum Glück nicht an. Gert hätte keine Garantie dafür abgeben können, dem feinen Herrn nicht eine zu scheuern. Sie ersparten Jenny, noch einmal in die Wohnung zu müssen. Unzählige Anrufe und Kurznachrichten, sowohl von Peter als auch von Sonja, trudelten ein. Mit keinem der beiden wollte Jenny reden. Widerwillig las sie die erste sms. Es kotzte sie an. Die Anrufe drückte sie weg. Schließlich schaltete sie das Handy aus und warf es in eine Ecke. Der abgrundtiefe Hass, den sie derzeit für Peter und Sonja empfand, war eine völlig neue Gefühlsregung. Immer wieder schoss das Bild der beiden und wie sie es miteinander trieben in ihr Hirn. Unfassbar! Und jedes Mal wurde ihr übel. Kotzübel!

 

Und jetzt, am Montagmorgen, blieb ihr nichts anderes übrig, als ihren Dienst wieder anzutreten. Schweren Herzens verließ Jenny das Haus und fuhr mit ihrem Auto, das die Eltern ebenfalls überstellt hatten, zum Kindernest. Die Kinder würden sie ablenken, so hoffte sie inständig. Heute Morgen hatte sie verzweifelt versucht, die rotgeschwollenen Augenringe unter einer dicken Schminkschicht zu verbergen. Sie trug ihre dreiviertel Jeans und dazu ein lustiges T-Shirt, auf dem ein lachender Affe winkte. Ihr war gar nicht zum Lachen zumute, aber vielleicht würde das T-Shirt die Kleinen ja von Jennys trauriger Miene ablenken.

Im Kindernest herrschte um diese Zeit, knapp vor sieben Uhr, noch dämmriges Licht und tiefe Stille, fast gespenstisch. Von den Fensterscheiben lachten die lustigen Gesichter von der Sonnenblume Doris, dem Affen Henrik, dem Clown Berti, der Biene Maja und dem faulen Willi. Die Fensterbilder waren das Ergebnis des gemeinsamen Malens mit den Kindern. Anschließend hatten sie sie an den Scheiben angebracht. Auch die Wände im Raum waren bunt geschmückt worden, damit die Kinder sich hier wohlfühlten. Keine fünf Minuten später flog die Tür auf und Gisi, ihre Helferin, stürmte herein, wie immer gut gelaunt.

„Einen wunderschönen guten Morgen, Jenny! Na, bist du wieder gesund?“

„Es geht schon wieder, danke.“

Aber ihre Tonlage alarmierte Gisi und sie trat dicht an Jenny heran. Zu dicht für deren Geschmack.

„Oh là là, du siehst beschissen aus.“

Treffer!, dachte Jenny. Gisi war keine, die lange um den heißen Brei herumredete, sondern immer ehrlich sagte, was sie meinte. War zwar in manchen Situationen nicht unbedingt klug, vor allem bei Gesprächen mit Eltern oder Vorgesetzten, aber Jenny mochte sie gerade deswegen.

Gisi zog sie ohne Umschweife in die Arme und drückte sie an ihre mütterliche Brust. Mit ihren fünfundfünfzig Jahren brachte sie einiges an Lebenserfahrung mit.

„Und jetzt sag schon, was dir über die Leber gelaufen ist. Liebeskummer, hm?“

Jenny nickte und schluckte die aufkeimenden Tränen hinunter. Wie viel Tränenflüssigkeit befand sich noch in ihrem Körper? Gisi legte fürsorglich den Arm um die Schulter ihrer Freundin und zog sie zu sich.

„Wer weiß, für was es gut ist“, philosophierte sie tröstend. Dieser Satz war ihre absolute Lieblingsweisheit und sie tat ihn bei jeder sich bietenden Gelegenheit kund.

Jetzt entlockte er Jenny ein sanftes Lächeln. Sie hob den Kopf und blickte sie mit großen, tränennassen Augen an.

„Ja, du hast wohl recht, wer weiß, wofür es gut ist!“ An die Aussage glaubte sie jedoch nicht. In den letzten Tagen hatte sie oft nach dem „Warum“ gefragt. Das Gedankenchaos endete stets mit dem Ergebnis, nicht gut und hübsch genug zu sein, um mit einem Mann zusammen ein glückliches Leben zu führen. Weiter über ihren Verlust zu grübeln und darüber, was sie wohl noch alles falsch gemacht hatte, half ihr nun auch nicht weiter.

„Komm, lass uns alles vorbereiten, bevor die Kinder eintrudeln.“ Jenny verzog sich in das winzige Büro, wo sie bei ihrer Ankunft ihre Tasche mit den Vorbereitungen für die diversen Spiele und die Geschichte zum Vorlesen verstaut hatte. Hier drinnen war es angenehm kühl. Der kleine Raum bot gerade einmal Platz für einen einfachen Schreibtisch und ein schmales Regal. Sie erzählte Gisi nicht, was genau geschehen war, es war ihr unmöglich, darüber zu sprechen. Irgendwann vielleicht, denn ihre Kollegin war keine Tratschtante. Was jedoch auch egal wäre, denn schließlich lebten sie in einem kleinen Dorf, wo jede Neuigkeit sofort die Runde machte. Es war also nur eine Frage der Zeit, bis sich herumgesprochen hatte, wie übel ihr mitgespielt worden war. Einige würden sogar ihre Witze darüber reißen und Jenny zum Gespött des Dorfes machen. Sie fror bei diesem Gedanken. Es war nicht mehr zu ändern.

 

Der Tag verging schneller als erwartet. Die Kinder lenkten sie tatsächlich von ihrem Kummer ab. Der kleine Timmy erzählte von dem Wochenendausflug mit seinen Eltern in den Tierpark. Die jungen Äffchen hatten ihm besonders gut gefallen. Die kleine Elena kuschelte sich für einige Minuten an Jennys Brust und holte sich Liebkosungen und Streicheleinheiten ab, die sie anscheinend zu Hause von ihrer gestressten, alleinerziehenden Mutter nicht zur Genüge bekam. Der Vater der Kleinen hatte sich aus dem Staub gemacht, nachdem er von der Schwangerschaft erfuhr. Er beschuldigte Elenas Mutter damals sogar, dass sie absichtlich nicht verhütet hätte, nur um ihn an sich zu binden. Männer sind eben Arschlöcher! Sicher nicht alle, bremste Jenny ihre schlimmen Gedanken. Es gab genug Väter, die ihre Sprösslinge über alles liebten, regelmäßig in den Kindergarten brachten und sie auch wieder pünktlich abholten.

Die Kleineren beschäftigten sich eine Zeit lang miteinander, suchten sich die Spielsachen aus oder durften sich in die Kuschelecke zurückziehen. Gisi beaufsichtigte sie. Die Größeren, die im darauffolgenden Jahr die Schulbank drücken würden, förderte Jenny mit Spielen, bei denen die Farben, die Zahlen oder Buchstaben erlernt werden konnten. Nach der Pause mit Kakao und Broten bildeten die Kinder mit den Sesseln einen Kreis. Jenny holte ihre Gitarre und stimmte ein fröhliches Kinderlied an. Zu ihrer hellen Stimme gesellten sich die zarten Kinderstimmen. Anschließend erzählte sie eine Geschichte, wo kleine Tiere vorkamen, die Hilfe benötigten, und von einem bösen Jungen, der nur Unsinn im Kopf hatte. Zum Abschluss durften die Kinder ins Freie auf die Spielwiese laufen.

Endlich! Sämtliche Kinder befanden sich wieder in der Obhut ihrer Eltern. Gisi und sie räumten auf, bevor auch sie sich auf den Weg nach Hause machten. Nein! Nicht nach Hause, sondern zu ihren Eltern, korrigierte Jenny traurig ihre Gedanken. Als sie auf ihr Auto zusteuerte, hörte sie, wie eine tiefe Stimme ihren Namen rief. Sie kannte diese Stimme. Automatisch beschleunigte sie ihr Tempo, ohne sich umzudrehen. Keinem Menschen wäre sie jetzt weniger gern über den Weg gelaufen. Nichts wie weg hier, befahl ihr Hirn.

„Mensch, Jenny! Liebling, so warte doch!“

Kurz darauf griff Peters Hand nach ihrem Arm und hielt sie grob zurück.

„Lass mich in Ruhe!“ Sie zischte diese Worte mehr, als sie sie sprach. Ekel und Wut schossen in ihr hoch. Wie dreist war das denn, ihr aufzulauern!

„Jenny, Liebling, bitte verzeih mir, ich weiß nicht, wie das passieren konnte. Du musst mir einfach glauben! Es war ein einmaliger Ausrutscher.“ Seine angedeutete Verzweiflung nahm ihm Jenny nicht ab.

„Verschwinde! Ich verzeihe nicht! Niemals, hörst du, N I E M A L S! Und lass mich endlich in Ruhe, ein für alle Mal!“ Zornig riss sie sich los und lief zu ihrem Wagen.

„Ich gebe nicht so schnell auf, mein Liebling!“ Auch er klang wütend. „Du gehörst zu mir! Du kannst dir sicher sein, dass unsere Hochzeit stattfindet.“

Jenny zuckte bei seinem Geschrei zusammen. Seine Stimme hatte einen bedrohlichen Unterton angenommen. Ein Schauer der Angst fuhr über ihren Rücken. Unangenehme Gänsehaut. Sie kannte Peters Sturheit zur Genüge, wenn er sich etwas in den Kopf gesetzt hatte. Er würde sie wohl nicht in Ruhe lassen, bis er sie umgestimmt hatte. Verlieren kam für ihn nicht infrage.

Und in diesem Moment fasste sie einen Entschluss. Sie musste weit weg von hier und das so rasch wie möglich.

 


 

 

2. Kapitel

 

Jenny hatte gute vier Stunden Autofahrt hinter sich. Vor ihr breitete sich der See in dunklem Türkisblau aus. Die Sonnenstrahlen warfen abertausende Glitzersternchen auf die Wasseroberfläche. Sie fuhr das Auto rechts an eine Ausweichstelle, um den Blick schweifen zu lassen. Ein wunderschöner Ausblick bot sich ihr. Eine Landschaft wie gemalt und eingebettet ins dunkle, saftige Grün der See.

Mattsee ist eine Gemeinde mit dreitausendeinhundert Einwohnern. Der Ort grenzt an den gleichnamigen Mattsee – das hatte sie noch schnell vor ihrer Abreise recherchiert.

Jenny lief auf die gegenüberliegende Straßenseite und steuerte auf die Uferpromenade zu. Es hatte gefühlte vierzig Grad Celsius Außentemperatur, und das bereits Mitte Juli. Sie trug ihr knielanges hellgelbes Sommerkleid aus Leinen, das ihr jetzt auf der Haut klebte. Bei ihrem Vorstellungsgespräch heute wollte sie professionell wirken, aber jetzt bezweifelte sie, die richtige Kleiderwahl getroffen zu haben. Das Leinen war nach der langen Autofahrt zerknittert und verschwitzt. Ob es wirklich nur an der Hitze lag? Oder an dem unguten Gefühl wegen des heutigen Termins? Jenny starrte auf den See. Sie versuchte sich zu beruhigen, indem sie tief ein- und langsam wieder ausatmete. Sie ließ die Zeitungsannonce noch einmal in Gedanken Revue passieren.

„Kindermädchen gesucht: Lieben Sie Kinder und sind unabhängig? Suche vierundzwanzig Stunden Betreuung für meine beiden Lieblinge im Alter zwischen einem und drei Jahren. Gutes Gehalt, mit kostenlosem Logis und Verpflegung. Familienanschluss. Bei Interesse schreiben Sie eine kurze E-Mail …“

Ohne lange zu überlegen hatte sie sich sofort an ihren PC gesetzt und eine Bewerbung übermittelt, obwohl sie weder wusste, wo und bei wem der Arbeitsplatz sein sollte, geschweige denn, welche Verdienstmöglichkeiten sie hätte. Aber wenn man bedachte, dass es sich hier um eine private Kinderbetreuungsstelle handelte, würde der Lohn wohl dementsprechend niedrig ausfallen. Eigentlich war dies im Moment unwichtig. Viel dringender war, so rasch als möglich ihren Heimatort verlassen und eine neue Stelle antreten zu können. Peter hatte ihr in den vergangenen vierzehn Tagen mehrmals aufgelauert. Sogar vor der Tür ihres Elternhauses hatte er sie belästigt und wollte ein Gespräch erzwingen. Ihre Eltern waren wunderbar, sie war ihnen so dankbar, dass sie Jenny in diesen Tagen beschützt hatten. In ihrer letzten Arbeitswoche holte ihr Vater sie sogar täglich vom Kindergarten ab, damit Peter ihr nicht zu nahe trat. So rasch würde er wohl nicht aufgeben. Und Sonja? Akzeptierte nach unzähligen, unbeantworteten Kurznachrichten, Anrufen und E-Mails, dass Jenny nichts mehr mit ihr zu tun haben wollte.

Wirklich gute Chancen hatte sie sich nicht auf den Job ausgerechnet. Meist war es ja so, dass für derartige Stellen mit Familienanschluss Au-pair-Mädchen eingestellt wurden. Die waren billiger und kamen vor allem der Sprache wegen ins Land. Umso erstaunter war sie gewesen, als sie bereits am nächsten Tag eine E-Mail erhalten hatte. Ein gewisser Herr Diplomingenieur Maximilian Winter bedankte sich für ihre ausführliche Bewerbung und wollte sie gerne kennenlernen. Er gab ihr Ort und Datum bekannt, und nun war sie nur mehr wenige Kilometer vom Treffpunkt entfernt. Wieder fühlte sie ihre Nervosität. Sie lief zurück zum Auto, kontrollierte vorsichtshalber nochmals die Daten, mit denen sie ihr geliebtes Navi gefüttert hatte und startete mit verschwitzten Händen. Der Weg führte sie aus dem Ort hinaus und um den halben See herum, bis sie eine Siedlung mit noblen Villen erreichte. Beim zweiten Haus gab ihr das Navi Bescheid, dass sie den Zielort erreicht hatte. Sie bremste vor einem riesigen Tor und begutachtete vom Auto aus die Umgebung. Die Umfriedung des Grundstückes bestand aus einer meterhohen Steinmauer mit aufgesetztem, weißem Metallzaun. Hinter dieser Mauer erstreckte sich eine Parkanlage, durch die eine Zufahrtsstraße zum Haus verlief. Ein großes Schild mit der Aufschrift „Fa. MAX-Bau, Dipl. Ing. Maximilian Winter, Architekt“ am Tor bestätigte ihr, dass sie richtig war. Sie stieg aus und drückte auf die große Klingel rechts vom Tor, worauf es sich wie von Zauberhand öffnete. Jenny beeilte sich, den Wagen zu starten und hindurchzufahren, bevor sich das Ungetüm wieder schloss.

Vor einer gelben, mehrstöckigen Villa stoppte Jenny und staunte. Der moderne Bau verfügte über diverse Anbauten, einen davon aus Glas. Erker, Gauben, eine außergewöhnliche Dachform, große Glasfronten und noch weitere zahlreiche Extras unterstrichen die Einzigartigkeit dieses Gebäudes. Und trotz allem oder gerade deswegen strahlte es eine anheimelnde Wärme aus. Die gepflegte Parkanlage trug das Ihre dazu bei.

Sie stieg aus. Leider blieb keine Zeit, sich intensiver umzusehen, denn die imposante weiße Eingangstür öffnete sich und eine ältere Frau mit einem Kind am Arm und einem weiteren an ihrem Rockzipfel kam heraus.

„Sie wünschen?“, fragte sie mit gehetzter Stimme. Ihr kleiner stämmiger Körper verstellte den Eingang.

Jenny ließ sich jedoch dadurch nicht einschüchtern. Häufig hatte sie mit nörgelnden und unwirschen Eltern zu tun gehabt, die sich eigentlich nicht so recht um ihren Nachwuchs kümmerten, aber an der Betreuungsperson ständig etwas auszusetzen wussten.

Sie ging auf die Frau zu und sagte mit fester Stimme: „Grüß Gott. Ich bin Jennifer Neumann und habe um elf Uhr einen Termin mit Herrn Diplomingenieur Winter wegen der Stelle als Kindermädchen.“

„Sie sind das neue Kindermädchen?“ Ihr Gesicht strahlte plötzlich. „Kommen S’ doch herein. Sie können gleich anfangen, wenn S’ mögen. Der Max, ich meine, Diplomingenieur Winter wird sich etwas verspäten, er hat noch geschäftlich in der Stadt zu tun. War zwar nicht geplant, aber dringend.“ Sie zeigte auf die Kinder. „Und das ist der kleine Benjamin, wir rufen ihn Benny und unsere Amelie. Und ich bin die Rosa Burger und hier die Haushälterin. Bis jetzt war ich noch zusätzlich das Kindermädchen, aber glauben S’ mir, in meinem Alter ist das alles zusammen einfach zu viel. Das schaff ich nicht mehr.“

Das kleine Mädchen an Frau Rosas Seite schielte verstohlen zu Jenny hoch. Ihr dunkles, beinahe schwarzes Haar war zu einem hohen Pferdeschwanz zusammengebunden. Ihre großen runden Kulleraugen ruhten neugierig auf ihr. Jenny hockte sich vor die Kleine, um mit ihr auf selber Augenhöhe zu sein.

„Hallo Amelie, ich bin Jennifer, du kannst mich Jenny nennen, wenn du möchtest. Amelie ist wirklich ein sehr schöner Name und passt zu dir, weil du so ein hübsches Mädchen bist“, streute sie der Kleinen Blumen.

Dann stand Jenny wieder auf und ergriff ein Händchen von Benny.

„Na, mein Kleiner, du bist ja auch so ein süßer Fratz, hast die gleich dunklen Haare und Augen wie deine Schwester.“

Benjamin drehte scheu sein Köpfchen zu Rosa und beäugte Jenny vorsichtig aus dem Augenwinkel. Jenny lächelte ihn an.

„Ich würde schon gerne anfangen, aber sollten wir da nicht auf Herrn Winter warten, schließlich sollte dies heute hier ein Vorstellungsgespräch sein, und ich nehme an, dass er noch weitere Kandidatinnen zur Auswahl hat?“ Insgeheim sprach Jenny Rosa nicht unbedingt die Kompetenz zu, die Auswahl der neuen Angestellten treffen zu dürfen.

„Papperlapapp, was heißt hier weitere Kandidatinnen? Es haben sich mit Ihnen nur noch zwei andere Damen beworben. Eine aus Ungarn und eine aus Russland. Aber für meine beiden Kleinen hier kommt mir keine von denen ins Haus, nicht, so lange ich auch hier bin. Das habe ich dem Max klipp und klar gesagt.“

Rosa schien doch das Sagen zu haben, Jenny verkniff sich ein Grinsen. Irgendwie gefiel ihr die Haushälterin mit ihrer resoluten Art.

„Und weil wir die anderen somit bereits ausgeschlossen haben, sind nur mehr Sie im Rennen. Unter uns gesagt, mir hat Ihr Foto auch am besten von allen gefallen. Und ehrlich, in Natur sind Sie ja noch hübscher!“

Jenny merkte, wie ihr vor Verlegenheit die Röte ins Gesicht schoss.

„Danke“, murmelte sie. Mit Komplimenten kam sie nicht zurecht. Und hübsch? Das war nun reichlich übertrieben. Okay, wenn sie geschminkt und gut gekleidet war, würde sie sich im unteren Mittelfeld einstufen. Aber Peters Untreue bestätigte ihre Meinung über das eigene Aussehen, daran gab es nichts zu rütteln.

Zuerst einmal war sie froh, den Weg hierher nicht umsonst gemacht zu haben, wie es aussah. Sie behielt dies jedoch für sich. Auch, dass sie bereits das Notwendigste eingepackt und mitgebracht hatte, band sie Rosa nicht auf die Nase. Was ihr Aussehen mit der Stelle als Kindermädchen zu tun haben sollte, war Jenny allerdings ein Rätsel. Es blieb ihr keine Zeit, weitere Gedanken darüber zu verlieren. Sie folgte Rosa hinein und hoffte, dass der Chef des Hauses ein netter Kerl war und sie anstellte.

In Rekordzeit zeigte Rosa Jenny die Küche, das Wohnzimmer, das Büro des Hausherrn, dann im ersten Stockwerk das Badezimmer, die Schlafräume der Kinder und von Max. Das Gästezimmer, das während ihres Dienstes hier im Haus ihr Reich sein sollte, lag den Kinderzimmern gegenüber und hatte sogar ein eigenes Bad mit WC. Von ihrem Fenster aus blickte sie auf das Ufer des Mattsees.

Schließlich drückte ihr Rosa ohne Umschweife den kleinen Benjamin in die Arme, der, nach der Duftwolke zu schließen, eine deftige Stinkbombe gelegt hatte.

„Während du den kleinen Stinkbären wickelst, bereite ich das Essen vor. Anschließend kannst du dich frisch machen und etwas ausruhen“, plauderte Rosa, die ohne Umschweife zum Du gewechselt hatte. Für diese Frau bestand anscheinend nicht der geringste Zweifel, dass sie das neue Kindermädchen vor sich hatte.